Es ist nicht schlecht gelaufen

Mall Rats (2): Im Einkaufszentrum kosten ein Becher Kaffee und zwei Hackepeter-Brötchen nur 2,30. Beim Frühstück werden Märchen aus einer anderen Zeit erzählt

Um sieben Uhr macht der Penny auf, um acht öffnen dann der real, die Bäcker und die ersten Imbissstände. Die Putzfrauen des Centers gehen zu "Kosta's" im "Schlemmerparadies", weil man hier vormittags für einen Becher Kaffee nur 99 Cent bezahlt. In Steineckes Heidebrot Backstube weiter vorne kosten ein "Pott" Kaffee und zwei halbe Brötchen mit Hackepeter und Zwiebeln 2,30 Euro. Hier sitzen die Rentner, rauchen Zigaretten und erzählen Lebensgeschichten, die wie Märchen aus einer anderen Zeit klingen: "37 Jahre bei Siemens" oder "42 Jahre in der Stahlindustrie", das sind die Rahmendaten ihrer Erwerbsbiografien. Selbst M., der sein Leben lang selbständig war, "will nicht klagen". Er besitzt heute unter anderem vier Häuser, eines davon in Spanien. "Es ist nicht schlecht gelaufen."

M. ist Jahrgang 1940 und hat eine Lehre als Zimmermann gemacht. Drei Jahre lang geht er auf die Walze. "Da hat man für Kost und Logis gearbeitet. Aber manchmal haben sie einem hinterher auch 50 Mark zugesteckt." Anschließend macht er sich als Gerüstbauer selbständig, und in den Sechzigern und den Siebzigern verdient er gut. "Also: richtig gut." Am Stadtrand werden die Großsiedlungen hochgezogen, und er und seine Männer bauen bis zu siebzig Meter hohe Gerüste. "Damals noch aus Holz."

Eines Morgens passiert es dann. Eine Verankerung ist nicht richtig befestigt, und eine der Konstruktionen löst sich von der Wand. "Erst fiel es ganz langsam, dann immer schneller." Einer seiner Arbeiter springt durch eine Fensterscheibe in das Gebäude und verblutet auf dem Weg ins Krankenhaus, zwei andere Männer werden unter dem Gerüst begraben. M. überlebt den Sturz wie durch ein Wunder. Er ist nicht einmal verletzt. "Aber die anderen alle tot. Das war schlimm."

In den Achtzigern geht es mit der Baubranche bergab. "Ein paar von den Kollegen, die früher dick im Geschäft waren, habe ich plötzlich vor dem Hauptbahnhof wiedergetroffen." Er hat Glück gehabt. Sein kleines Unternehmen läuft weiter, inzwischen übernimmt er auch Dachdeckerarbeiten. Ende der Achtziger hat er einen zweiten Unfall. Diesmal stürzte er vom Dach eines Einfamilienhauses. Er kommt nicht ganz so glimpflich davon. Sein Schädel ist gebrochen, ein Knochensplitter dringt in sein Gehirn. Er zeigt mir die Stelle: "Da liegen drei kleine Gehirne nebeneinander. Eins für die Bewegung, eins fürs Sehen, eins fürs Sprechen." Sein Sprachzentrum ist verletzt. Es dauert ein Jahr, bis er wieder sprechen kann, bis heute vergisst er manchmal eine Silbe oder ein ganzes Wort. "Aber auf dem Dach war ich schon wieder nach zwei Wochen."

Das ist inzwischen über fünfzehn Jahre her. Inzwischen ist er 66. Ein bisschen arbeitet er immer noch, ein paar Auftraggebern hat er "die Treue gehalten". Nächste Woche muss er ins Krankenhaus. Er bekommt "ein neues Knie", und zwar "aus Titan". M. hat sich in seinem Leben zu viele Dachbalken, Stahlstangen und Dachziegel auf die Schultern geladen. Seine Frau hat es mit dem Herzen, sie gehen gleichzeitig in die Reha. - "Und dann?" - "Irgendwann hau ich ab nach Spanien." Er lädt mich noch auf einen Kaffee ein. "Eigentlich rede ich nicht gerne darüber", sagt er. "Aber man ist doch ein bisschen stolz, wie man …" - er zögert kurz, sucht nach den richtigen Worten - "wie man das Leben gemeistert hat."

KOLJA MENSING

Kolja Mensing und Florian Thalhofer verbringen einen Monat im Einkaufszentrum. Geschichten und Videos unter www.13terStock.de


taz vom 25.10.2006, S. 15, 118 Z. (TAZ-Bericht), KOLJA MENSING